Ein schöner Tag

Veröffentlicht auf von Rodhus18

Heute ist Samstag. Seit 2 Wochen haben ich zum ersten Mal die ganze Nacht durch geschlafen. Ich glaube ich habe auch nichts geträumt. Gestern Abend hatte ich noch ein längeres Gespräch mit Phillip. Das Internet lieferte mir so viele Informationen über burn-out, da blickte ich nicht mehr durch. Ich denke es ist übertrieben, bei mir davon zu reden. Trotzdem werde ich aufpassen müssen, damit ich nicht unnötig schlapp mache. Phillip schlug vor, dass wir Britta am Sonntag mit einem Ausflug überraschen. Wir wollen mit ihr zum Mittagessen fahren und anschließend eine Dampferfahrt auf dem Rhein machen.

 

Um 10 Uhr war ich im Krankenhaus und wollte wissen, ob Tim jetzt in eine andere Klinik verlegt wird. Die Ärzte haben sich nach der letzten Nacht dagegen entschieden.  Sie rechnen damit, dass sich der Zustand in den nächsten Tagen verbessert. Sie dosieren ab jetzt wieder weniger Schlafmittel. Tim erkennt man kaum wieder. Das Gesicht und der ganze Körper ist unnatürlich aufgequellt. Ich wollte ein Foto machen, fand das dann aber nicht gut, dieses Bild möchte ich lieber ganz schnell vergessen. Um 12 Uhr hatte ich dann die Kinder im Haus nebenan auf der Kinder-Onkologie besucht, in der ich mein Praktikum machte. Mit den Schwestern habe ich mich dann sehr lange unterhalten. Sie haben immer noch den Stress, dass Mitarbeiter fehlen und sie wenig Zeit für die kranken Kinder haben. Ich versprach ihnen öfter vorbei zu kommen und den Kindern etwas vorzulesen oder mit Ihnen zu spielen. Am Nachmittag kam dann Britta, Phillip und Brittas Mutter. Wir haben zusammen in der Cafeteria Kaffee getrunken. Ich wollte wieder bei Tim bleiben. Nachdem die Ärzte die Schlafdosis reduziert haben, kann es sein, dass er aufwacht. Britta blieb deshalb im Krankenhaus, während ich nach Hause ging um etwas zu schlafen. Ich wollte die Nacht im Krankenhaus sein und Britta ablösen.

 

Um 23 Uhr löste ich Britta ab und nahm mein Laptop mit. In dem Zimmer darf ich den nicht benutzen, weil der DVD Player Störungen an den hoch empfindlichen Geräten verursacht, also brachte ich ihn zurück zum Auto. Erst die Hände desinfizieren, dann einen blauen Kittel überziehen, sonst kommt man nicht rein. Tim schläft immer noch. Bis jetzt war er auch noch nicht aufgewacht. Aber er ist sehr unruhig und bewegt sich oft. Ich rede mit ihm. Rene hat heute Nachtdienst und erzählt mir, dass sie voll belegt sind und ständig neue Notfälle kommen. Das gesamte Personal ist auf der Intensivstation ständig beschäftigt und in Eile. Hier geht es immer um Sekunden, die ein  Leben retten können. Ich bewundere sie, wie sie das alles aushalten können und dabei auch noch so wirken, als wären sie die Ruhe selbst. Inzwischen kenne ich mich mit den Abläufen ganz gut aus und achte auch darauf, ob wirklich alle 2 Stunden  Tim etwas anders gelegt wird. Dabei sah ich, dass die Druckstellen durch die neue Matratze etwas besser geworden sind und die Operationsnarben fast verheilt sind. Durch meinen Kopf gingen so viele Gedanken. Seit ich Medikamente nehme, die mich etwas beruhigen sollen, sehe ich etwas weiter und habe nicht mehr die ganz große Panik. Die Nacht war lang und ohne besondere Ereignisse. Da Nachbarbett ist auch belegt und da haben die Ärzte ständig etwas zu tun. Zwischen den Betten steht ein Sichtschutz aus Stoff. Ich hörte also nur, dass es große Komplikationen gab und der Patient später zur Operation gebracht wurde. Er kam stundenlang nicht zurück. Später holte eine Schwester die Privatsachen ab und das leere Bett wurde wieder rein geschoben. Das macht mir Angst, wie schnell  alles geht und auch wieder Mut. Ich bin stolz auf Tim, dass er dem jetzt schon so lange getrotzt hat.

 

Um halb 7 fing die Hast am Morgen an. Ich helfe Tim zu waschen, und einzureiben. Er bekommt neues Bettzeug und ein neues Hemd. Für ihn gibt es zum Frühstück aus einer Spritze etwas undefinierbares, das über den Schlauch in den Magen gedrückt wird. Es ist Sonderkost, die für diese Zwecke hergestellt wird. Ich frage mich, ob das Essen Geschmack hat. Um 9 fuhr ich dann nach Hause um etwas zu schlafen.

Ich muss mich wirklich zwingen, mein Tagebuch weiter zu schreiben und deshalb habe ich jetzt erstmal alles was mir zum heutigen Tag eingefallen ist, aufgeschrieben.

 

Gestern war Sonntag und heute am Montag sitze ich an meinem Schreibtisch. Es ist halb 6 am Morgen und ich bin noch ziemlich aufgewühlt. Gestern Nachmittag bin ich ins Krankenhaus und dachte, ich sitze wieder Stunden und warte darauf, dass Tim aufwacht. Statt dessen sitzt Britta mit Phillip neben Tims Bett und er hat die Augen auf und sie reden mit ihm. Er war bei Bewusstsein aber etwas benebelt. Es war so ein schöner Moment, als er mich sah. Seine Augen sagten so viel, er schien sich wirklich zu freuen. Das sahen sogar Britta und Phillip, die uns dann alleine gelassen haben. Ich glaub ich hab eine Stunde nur da gesessen und kaum was gesagt, nur Tim an geguckt. Ich kann das Gefühl nicht beschreiben, es war viel viel mehr als man Glück beschreiben kann. Er kann leicht den Kopf bewegen und antwortet auf meine Fragen. Ich erzählte ihm, was ich schon die ganzen anderen Tage erzählte, weil ich nicht wusste, ob er es verstanden hat. Am Abend haben sie ihm die Magensonde entfernt. Ich weiß nicht mehr, wie oft Tim zwischen drin eingeschlafen ist. Ich saß dann da und hab gewartet, bis er wieder aufwacht.

 

Der Arzt meinte, ich solle ihn nicht zu sehr belasten, es wäre für ihn sehr anstrengend. Sie hatten in meinem Beisein einige Testfragen gestellt, die er mit Nicken beantworten sollte. Er hatte Schwierigkeiten mit dem Denken. „Bist du im Mai geboren“ konnte er ungefähr nach 10 Minuten mit einem Kopfschütteln beantworten. Bei Dezember hat er genickt. Er kann sich erinnern. Oh man, ich bin überglücklich. In der Nacht hatte er meine Hand gehalten. Ich habe viele schöne Momente mit Tim gehabt. Dies war der aller schönste Moment. Egal was jetzt noch kommt. Ein paar mal versuchte er zu reden, aber es ging wirklich nicht. Er wird das alles erst wieder lernen müssen. Er kann sich bewegen und er kann sich erinnern. Ich glaube, den Rest schaffen wir zusammen. Ich hätte nie gedacht, dass ich das jemals in mein Tagebuch schreiben darf.

 

Heute Mittag bin ich ins Krankenhaus und wollte im Blumenladen vorher noch Blumen kaufen, war mir aber nicht sicher, ob man wegen der sterilen Umgebung überhaupt Blumen mitbringen darf. Ich meine mich erinnern zu können, irgendwo gelesen zu haben, man sollte das nicht tun. Später habe ich erfahren, dass es tatsächlich so ist. Tim hatten sie das Bett hochstellt und er saß fast. Die Schwester sagte mir, sie haben mit ihm heute Bewegungsübungen gemacht und er hat auch schon etwas gegessen. Der Glanz in Tims Augen, als ich rein kam, ich kann das Gefühl echt nicht beschreiben, ich spüre ganz tiefe Verbundenheit. Ich sagte Tim das mit den Blumen und versprach ihm welche mit zu bringen, sobald er auf ein normales Zimmer verlegt wird. Am Nachmittag hat eine Logopädin sich Tim an geguckt und mit ihm erste Sprechübungen gemacht. Das war noch sehr holprig. Beim Abendessen gab es Grießbrei, weil er auch das Schlucken und Kauen erst wieder richtig lernen muss. Alles so Sachen, die für uns selbstverständlich sind, stellen sich als große Hindernisse in dieser Situation raus. Ich hab ihn gefüttert. Obwohl er sich bewegen kann, bekommt er es noch nicht hin, die Bewegungen richtig zu steuern. Ich übte mit Tim, den MP3 Player zu bedienen und den Schwesternruf auszulösen. Es war sehr schwer, obwohl er sich größte Mühe gab. Zwischen drin schlief er immer wieder ein. Als ich um 21 Uhr ging war ich total aufgedreht und habe erstmal mit Sven telefoniert, dem ich versprochen hatte, ihn sofort zu informieren, wenn es Tim besser geht. Danach bin ich zu Burger King gefahren und hab 10 Chicken Burger gekauft, die ich den Schwestern und Pfleger vom Nachtdienst brachte. Ich bin so froh, dass sie sich so um Tim kümmern. Hatte ich ihnen versprochen, was zu Essen zu bringen. Um das Krankenhaus herum fahren ständig Krankenwagen mit Sirenen. Jedes Mal wenn ich das höre schrecke ich zusammen. Ich denke jetzt mehr an die Angehörigen, wie schwer sie es haben, mit der Situation fertig zu werden. Davon kriegen die Patienten eigentlich nichts mit. Doch jetzt, wo ich so die letzten Zeilen in mein Tagebuch schreibe, glaube ich es war ein schöner Tag.

Veröffentlicht in Tagebuch 2008-2010

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T
Martin ich kann nichts sagen. Ich hab jetzt einige Stunden gebraucht deinen gesamten Blog durchzulesen. Unglaublich!!!!!!!!! <br /> Du hast so viele Höhen und Tief mit gemacht und erweckst den Eindruck, alles wird von deiner tiefen Zuneigung zu einem Menschen getragen. Ich komm mir richtig klein vor, wenn ich das mit meinen Ansprüchen an das Leben vergleiche. Ich bin dir sehr dankbar dass ich das lesen durfte. Das Gelesene zu verarbeiten wird bei mir ganz bestimmt eine Weile dauern. Dir wünsche ich viel Kraft und Tim baldige Genesung.<br /> Ganz liebe Grüße aus Kiel wünscht dir Torben
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D
Hallo Martin,<br /> <br /> ich lese das heute hier und auch wenn ich Dich nur aus einer Internetseite kennen lernen durfte (WKW) habe ich mich von Deinen Worten tief berühren lassen. Habe lesen dürfen was in Dir vorgeht und wie sich Hoffnung und Freude für Dich ausgedrückt haben. Man kommt sich so klein vor, wenn man Deine Größe erkennen kann, wenn man sieht was Augen die strahlen ausdrücken können und was Liebe ist, die sich in Tims und Dein Herz gegraben hat. Es ist so unbeschreiblich an was Du uns da hast teilhaben lassen, das ich es gar nicht in Worten ausdrücken kann. Es kann nur der plumpe Versuch sein nach Worten zu ringen die meine Gefühle beschreiben. Gedanken die in mir kreisen, die mir zeigen wie schnell etwas sich verändern kann und an wie viele Eindrücken wir unser Bewusstsein vorbeischleusen, weil es uns unwichtig erscheint, haben einen neuen Stellenwert bekommen. Ich werde vieles anders sehen, anders sehen können, weil ich hier daran teilhaben durfte. Es ist ein Weg den ich in nächster Zeit in die andere Richtung gehen werde, ich habe Angst davor, aber Deine Eindrücke werden mir helfen ihn mit Würde für beide gehen zu können und auf das zu achten was mir dann noch geboten wird. Sich zu freuen an dem was ich sehen werde und erkennen darf. <br /> <br /> Dir und Tim die besten Wünsche <br /> Liebe Grüße Daniel (G.P.Sahm)
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S
Martin, ich weiß nicht mal wie ich es sagen soll. Du bestätigt mir jetzt, wo ich so viel von dem gelesen habe, was dich berührt, dass ich froh bin Dich zu kennen. Ich habe mit dir gebangt und mit dir gehofft. Ich hoffe Du weißt, dass wir immer für Dich und Tim da sind. Die Sonne scheint wieder!<br /> *ganz lieb drück*<br /> Sven
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