Langsam aufwachen

Veröffentlicht auf von Rodhus18

Ám Sonntag Abend bin alleine ins Krankenhaus gefahren um Tim Gute Nacht zu sagen. Er sah sehr entspannt aus, ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, dass er nicht wie sonst ein fröhliches Gesicht hat, seine großen Augen geschlossen sind und er nur vielleicht mit bekommt, was ich sage. Die Schwestern haben ihm wohl meine kleine Diddlemaus in die Hand gelegt. Sie mögen ihn da alle, obwohl sie ihn überhaupt nicht kennen. Neben Tim liegt jetzt ein Junge der am Nachmittag eingeliefert wurde. Ich traf seine Eltern und wir haben uns ein bisschen unterhalten. Er ist bei Bewusstsein und hatte einen Autounfall. Sie erzählten mir später, dass er 19 ist und sie in Benrath, einem Stadtteil von Düsseldorf, wohnen. Ich erzähle ihnen, was mit Tim passiert ist und das es heute schon 8 Tage sind, die er im Koma liegt. Auch das die Ärzte morgen versuchen wollen, die Sauerstoffzufuhr abzustellen um zu sehen, ob er selbstständig ausreichend atmen kann.

Ich halte wieder Tims Hand und sehe jetzt das der Beutel von seinem Blasenkatheter, der an der Bettseite hängt, voll ist. Als ich der Schwester das sagte, hat sie ihn auch gleich ausgetauscht. Da ich nur eine Stunde bleiben durfte, habe ich die restliche Zeit genutzt um Tim etwas ab zu waschen. Er hat jetzt schon einen kleinen blonden Bart, den man spürt, wenn man drüber streicht. Ich blieb nicht die ganze Stunde da, ich musste raus, weil ich wieder mal kurz davor war, zu heulen und meine Hilflosigkeit durch kam. Bis jetzt hatte ich mich immer auf Tim verlassen. Er hatte immer eine Antwort und war genial wenn Probleme zu lösen waren. Jetzt steh ich da und dieses vertraute Absichern von Entscheidungen fehlt mir. Ich bin dann noch durch den Park gegangen und habe wieder sehr viel nachgedacht. Ich glaube mir ist bewusst geworden, wie sehr wir von einander abhängig sind. Ich nehme mir vor, wenn Tim wieder aufwacht, viel mehr darauf zu achten, dass wir wieder öfter etwas machen und ich meine überlegte Verlängerung in Kathmandu absage. Tim wollte zwar, dass ich das machen, er hatte sich für ein Praktikum an der Botschaft Kathmandu beworben, aber nach dem jetzigen Stand steht das in weiter Ferne.

Zu Hause haben wir dann etwas zusammen gesessen und ich habe Britta von meinem Vorhaben erzählt. Sie fand das ok, meinte aber ich soll nichts überstürzen und Tim sollte auch seine Meinung dazu sagen. Dumm, ja das habe ich nicht bedacht.

Ich musste dann noch für das Bundesamt Formulare ausfüllen und wollte mich morgen früh um Tims Auto und den ganzen Versicherungskram kümmern, da ist jetzt Post gekommen. Bei der Uni muss ich auch noch die Bescheinigung vom Krankenhaus abgeben. Danach gehe ich zu Tim und hoffe, dass er es schafft, aus eigener Kraft zu atmen. Erst dann lebt er für mich wirklich wieder.

Mitten in der Nacht bin ich hoch geschreckt und konnte nicht mehr einschlafen. Mit geht etwas im Kopf rum. Vor zwei oder drei Jahren haben wir nach einer Fernsehsendung eine Patientenverfügung für uns gemacht, die ich jetzt ganz schnell vergessen möchte. Um 7 Uhr bin ich runter und habe mit Phillip gefrühstückt.

Mit Brittas Auto bin ich nach Korschenbroich zu dem Abschleppdienst gefahren, bei dem Tims Auto stehen sollte. Oh mein Gott, es war nur ein einziger Blechhaufen, hinten war alles bis auf den Vordersitz eingedrückt und vorn war keine Motorhaube. Der Motor war in Höhe des Lenkrades und war von dem Airback zugedeckt. Mir wurde ganz schlecht, wie ich mir vorgestellt hab, das Tim aus diesem Blechknäul überhaupt rauskommen konnte. Der Abschlepper, der auch am Unfallort war, sagte, die Feuerwehr hat mit einer Blechschere die Seite aufgeschnitten. Er fragte auch gleich, wie es dem Fahrer geht, ob er überlebt hat. Wie ich das bestätige, sagte er, Tim muss 1000 Schutzengel gehabt gaben. Er montierte mir die verbogenen Nummernschilder ab, die noch an den Blechteilen waren, die im inneren des Wagens lagen. Wie ich Tims Sachen aus dem Auto holen wollte, sah ich überall Blut und bin zurück geschreckt. Der nette Mann von dem Abschleppdienst hat mich dann in sein Büro gebracht und mir Wasser angeboten. Ich konnte das nicht sehen, zum Glück hat er für mich das Auto ausgeräumt und alles in eine Tüte gepackt.

Er hat mir dann noch gesagt, dass ich die Versicherung anrufen soll, damit sie einen Gutachter schicken und versprochen, dass er seine Rechnung direkt mit der Versicherung von dem LKW abrechnen will. Danach bin ich mit den Angaben zur Autobahnpolizei nach Neuss gefahren um von dort einen Unfallbericht für die Versicherung zu bekommen. Die konnten sich auch gleich an den Unfall erinnern und hatten die Unfallakte da liegen. Jetzt habe ich auch die Bilder gesehen, die sie von dem Unfall gemacht haben, auch wie Tim im Auto lag. Es war sehr schlimm. Ich hätte das nicht ansehen sollen.

Die Versicherung hat überhaupt kein Büro in Düsseldorf stellte ich danach fest und wollte die Sachen erst am Abend fertig machen. Mir war nur noch schlecht von den grausamen Bildern.

Im Krankenhaus war dann das Gemisch aus dem Geruch und den Eindrücken vorher zu viel, ich musste mich auf der Toilette übergeben und hatte danach nur noch das Bedürfnis irgendwo zu sitzen um wieder zu mir zu kommen. Bevor ich zu Tim in Zimmer gehen konnte, habe ich noch draußen vor der Tür gesessen und mich etwas von dem Schrecken erholt.

Tim lag friedlich im Bett und hat wahrscheinlich nicht die leiseste Ahnung was alles mit ihm passiert ist. Aber die erste freudige Nachricht an diesem Tag: Er atmet wieder selbstständig!

Der kleine Schlauch in der Nase ist nur für noch für den Notfall. Der Ausgang an der Luftröhre ist zu und mit einem Pflaster verklebt. Und noch etwas ist anders, die OP-Narben haben jetzt auch nur noch ein leichtes Pflaster und verheilen schon. Heute ist eine Ärztin da, die mir erklärt, dass die Atmung stabil ist und sie überlegen, in ein oder zwei Tagen den Aufwachprozess einzuleiten. Ich versuchte dann Phillip anzurufen um zu fragen, was das für Folgen hat. Er war gerade im OP und rief zurück, während ich im Park darauf wartete. Sie haben Tim in ein künstliches Koma versetzt um seine Schmerzen zu lindern und seinen Körper nicht unnötig mit dem Stress der vielen Abwehrmechanismen zu belasten und wollen jetzt ganz langsam die Mittel absetzen, damit er aufwacht. Erst danach kann man tatsächlich feststellen, ob dauerhafte Schäden bleiben. Die Knochenbrüche verheilen und die gerissene Mils haben sie entfernt. Ob die Motorik und das Gehirn richtig arbeiten, kann man erst nach dem Aufwachen genau feststellen. Phillip erklärte mir das sehr ausführlich und es sieht so aus, als wäre die Lebensgefahr überstanden.

Ich hab dann Tim erzählt, dass er bald aufwacht und wie gut alles aussieht und das wir das schon alles schaffen werden, wenn er aufwacht. Seine Hand hat mir heute viel stärkere Signale gegeben, als wollte er das bestätigen. Britta kam um 15 Uhr und war auch ganz überrascht über den Zustand. Der Junge von dem Bett nebenan ist auf ein normales Zimmer gelegt worden, so sind wir ganz alleine mit Tim. Britta redet mit ihm und erzählt ihm, dass alles gut wird und er ganz beruhigt sein kann, wir wären alle da. Tim quittiert das mit einer gleichmäßig angestiegenen Kurve auf dem Überwachungsmonitor. Ich bin so froh, dass ich hier bin. Wie ich im Krankenhaus lag, hat Tim sich um mich gekümmert, haben seine Eltern alles gemacht, damit ich es gut habe. Jetzt kann ich wenigstens davon etwas wieder zurück geben.

Um 17 Uhr bin ich dann alleine nach Hause gefahren und sitze jetzt an meinem Tagebuch, dem ich etwas ganz Wichtiges anvertrauen will: Ich bin in den letzten 9 Tagen ein anderer Mensch geworden! Ich habe mir Ziele gesetzt, die nur bis zum nächsten Tag gehen und bin glücklich diese Ziele erleben zu können. Vielleicht bin ich nicht mehr der alte Martin, keine Ahnung, ist mir auch nicht wichtig.

Veröffentlicht in Tagebuch 2008-2010

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